Natascha Wodin: „Sie kam aus Mariupol” – Buchtipp

1919

Was kann ein Mensch ertragen?
Mariupols Geschichte als Spiegel einer grauenvollen Zeit.
Johanna Bonengels Buchtipp vom April 2022.

Während ich über das Buch „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin schreibe, schaut die Welt auf die Stadt Mariupol. Heute ist der 8. März 2022. Die Stadt ist von den Truppen Putins eingekesselt in einem archaischen Krieg, der keine Rücksicht auf Menschen nimmt. Die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer mit 500 000 Einwohnern steht im März 2022 vor einer humanitären Katastrophe. Zerstörung der Stadt, Vernichtung der Menschen. Die Stadt ist verdammt zu sterben.
Und das nicht zum ersten Mal. Mariupols Geschichte ist eine Geschichte fortwährenden Grauens. Für die sowjetischen Verbrechen der Stalin-Zeit ist der GULag, das Lagersystem, zum Symbol geworden. Aber es gibt ein viel größeres Verbrechen, den „Holodomor“, eine schreckliche Hungersnot. Der Begriff geht zurück auf die beiden ukrainischen Wörter „Holod“ (Hunger) und „Mor“ (Tod, Massensterben). In der Sowjetrepublik Ukraine starben in den Jahren 1932 und 1933 fast 4 Millionen Menschen den Hungertod. Stalin trägt für dieses Massensterben die Verantwortung.

Die Tragik von Mariupol nahm und nimmt kein Ende. Am 22. Juni 1941 überfiel Hitler-Deutschland die Sowjetunion. Mariupol wurde zwischen Oktober 1941 und September 1943 von Truppen der Wehrmacht besetzt. Mariupol erlitt furchtbare Zerstörungen. Ein großer Teil der jüdischen Gemeinde fiel dem Holocaust zum Opfer. Tausende Menschen aus Mariupol wurden 1942 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Sie waren die „Ostarbeiter“, mit denen niemand sprechen durfte. In Schweinfurt gibt es – dank der Initiative gegen das Vergessen – den Gedenkort „Drei Linden“. Er erinnert an die Arbeitssklaven in der Stadt Schweinfurt, darunter auch Menschen aus der Ukraine. Manche überlebten, kehrten in ihre Heimat zurück oder landeten als Displaced Person in einem Lager.
Das Schicksal der Stadt Mariupol erzählt Natascha Wodin am Beispiel von Menschen aus ihrer eigenen Familie. Sie alle erlebten eine politische Odyssee, in der Wodins Familie immer auf der falschen Seite stand. Es ist erschreckend zu lesen, wie sich Geschichte wiederholt, wozu menschenverachtende Gewaltherrscher fähig sind und wie hilflos die Menschen den Herrschenden ihrer Zeit ausgeliefert sind. Natascha Wodin macht in ihrem großartigen, ergreifenden Buch diese Abgründe sichtbar.

Die Autorin suchte mit Hilfe von Internetrecherchen die Spuren des Lebens ihrer Mutter Jewgenia, das in Mariupol begann. Drei Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 kam sie zur Welt, „hineingeboren in den Bürgerkrieg, den Terror, den Hunger, die Verfolgung“, „eine Wurzellose von Anfang an“, schreibt die Schriftstellerin in „Sie kam aus Mariupol“. Aus einer Adelsfamilie stammend hatten sie und ihre Familie keine Chance im stalinistischen Terror. Natascha Wodin erzählt anhand von Aufzeichnungen ihrer Tante die Gräuel nach 1917, veranschaulicht „Stalins großes Kollektivierungsexperiment“ Anfang der 1930er Jahre, „das später auch als Genozid am ukrainischen Volk in die Geschichte eingehen wird“.
Die Mutter geriet in „den Reißwolf zweier Diktaturen“. Als junge Frau erlebte sie den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen, menschenvernichtenden Terror, 1944 wurde sie von den Nazis als „Ostarbeiterin“ nach Deutschland verschleppt. Jewgenia überlebte die Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns in Leipzig. Zusammen mit ihrem Ehemann – auch die Ehe war von Gewalt geprägt – und ihren beiden Töchtern wurde sie in ein Lager für Displaced Persons eingewiesen, zuerst in das Lager Valka in Nürnberg-Langwasser, dann nach Forchheim. Sie waren Unerwünschte in einem fremden Land. Die Mutter zerbrach daran. Sie ertränkte sich in der Regnitz. Mit 36 Jahren. „Es existiert nichts mehr von ihr außer ein paar alten Schwarzweißfotos, einer seitenverkehrten Kopie ihrer Heiratsurkunde und einer Ikone, die sie einst aus der Ukraine mitgebracht hat.“

Natascha Wodin gelang mit ihrem Buch, was Historikern nur schwer gelingt: die Geschichte der Menschen in der Ukraine, in Mariupol, und die Geschichte der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Deutschland im Bewusstsein der heutigen Menschen zu verankern. Ein wahrlich ergreifendes, überaus erhellendes, fragendes Buch. Die Autorin kann bewundernswert die verschiedenen Tonlagen von Recherche, Rekonstruktion, Erzählung und Dokumentation verbinden. Es ist ihre eigene Geschichte. Eine Geschichte von Ungeheuerlichkeiten, die ohne Pathos geschrieben erzählt werden. Beim Lesen der Lebensgeschichte der Mutter aus Mariupol fragt man sich: Was kann ein Mensch ertragen? Auch heute muss man sich diese Frage stellen.

Natascha Wodin F: Susanne Schleyer

Zur Autorin: Vieles aus dem Leben von Natascha Wodin erfahren wir in ihrem autobiographisch geprägten Buch „Sie kam aus Mariupol“: 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter in Fürth geboren, Leben in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, Unterkommen in einem katholischen Mädchenheim. Sie hatte den starken Willen, dazuzugehören, wie sie selbst sagt. In „Sie kam aus Mariupol“ beschreibt sie ihr Grundgefühl so: „Ich gehörte zu einem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war.“

Ihre Lebensstationen: Obdachlosigkeit, Telefonistinnen- und Stenoptypistinnentätigkeit, Russisch-Dolmetscherin, frühe (sie heiratete mit 19 Jahren), bald gescheiterte Ehe mit einem Deutschen, der Nazi-Eltern hinter sich weiß. Auch die Ehe mit Wolfgang Hilbig, einem bedeutenden Schriftsteller (Büchner-Preisträger!) mit nervenaufreibendem Lebensstil, zerbrach. Das Schreiben und die Beschäftigung mit Sprache gaben ihr immer Halt, das sagt Natascha Wodin.
Auf ihr Romandebüt „Die gläserne Stadt”, das 1983 erschien, folgten etliche Veröffentlichungen, darunter die Romane „Nachtgeschwister“ und „Irgendwo in diesem Dunkel“. Sie bekam viele Auszeichnungen; für „Sie kam aus Mariupol“ erhielt sie 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse. In ihrem neuen Buch „Nastjas Tränen“ erzählt sie von Nastja als „eine der neuen Displaced Persons, die heute wieder zu Millionen über den Erdball irren“ (Natascha Wodin).
Seit vielen Jahren lebt Natascha Wodin in Berlin und an einem kleinen See in Mecklenburg.

2017 war sie auf Einladung der Initiative gegen das Vergessen, des Celtis-Gymnasiums und der Buchhandlung Vogel zu einer Lesung in Schweinfurt. Es bleibt unvergesslich.

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017, 12 € als Taschenbuch.