Nicht mal ein Corona-Blues

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Neun Monate Corona-Plage für die Schweinfurter Kulturszene

Corona war bis zum März 2020 in Deutschland ein Begriff, vor dem niemand Angst hatte. Da dachte man an mexikanisches Bier, Sonnenkranz, Autodesign, eine Heilige oder an eine Schar junger Menschen, die fröhlich zusammen etwas unternehmen. Und jetzt geht nicht mal mehr ein Corona-Blues. Denn nach neun Monaten ist aus der Fröhlichkeit ein Epidemieunwetter geworden, das die Welt im Griff hat. Atemnot!

Corona heißt jetzt: Neun Monate Quarantäne, neun Monate Plage für vieles und viele, ein Virus, das schwer krank machen kann, ein Fluch über die vernetzte und globalisierte Welt. Corona mit AHA heißt auch: Kein Konzert, kein Theater, keine Lesung, kein Tanz, kein Kabarett, kein Film, kein gemeinsames Singen, kein Museum, keine Ausstellung.

Corona öffnet aber auch die Augen für die Notwendigkeit eines solidarischen Zusammenlebens und für die existentielle Bedeutung der Kultur. Musizierende Italiener auf den Balkonen! Nichts in der Welt wirkt so ansteckend wie Lachen und gute Laune. Kultur ist bunt, sie klagt auch melancholisch wie der Blues. Kultur ist Denk- und Diskursraum. Sie lindert Schmerz, sie kann uns berühren, sie kann Hoffnung, Trost und Lebensmut spenden, sie ist Seelennahrung, sie ist eine Notwendigkeit. Was Kultur nicht ist: bloß ein netter Zeitvertreib, Ornament, wie es die Pandemiemaßnahmen suggerieren. Wenn Kultur geschlossen wird, werden die Herzen verschlossen, die Sinne und der Kopf verkümmern.

Was macht Corona mit der Schweinfurter Kulturszene? Lockdown im Frühjahr. Alle Veranstaltungen seit dem Frühlingsanfang werden gestrichen. In der Disharmonie herrscht Krisenstimmung. Jürgen Dahlke: „Es ist eine Katastrophe.“ Für die Künstlerinnen, für die Künstler, für alle, die vor und hinter der Bühne agieren. Keine Einnahmen, undurchsichtige Hilfsprogramme, unsichere Perspektiven. Aber die Kulturschaffenden stecken die Köpfe nicht in den Sand. „Wir lassen uns nicht unterkriegen“, so das Credo.

Einige Künstlerinnen und Künstler setzen sich allein ins Parkett oder ins Wohnzimmer und streamen. Matze Rossi veranstaltet zum Beispiel ein Wohnzimmerkonzert und überträgt es ins Netz. Ein schöner Versuch, Kultur am Leben zu halten. Emotionales Live-Erlebnis sieht allerdings anders aus. Jeder ist einsam, und alles ist irgendwie leer. Live-Streams können nichts ersetzen. Es fehlt das Gegenüber.

Seit dem Sommer gibt es ein Streichen oder ein Verschieben von Terminen und ein Wellenbad der Gefühle. Es schwankt zwischen „Erstmals wieder Live-Musik im Stattbahnhof“ und „Ein letztes Mal Live-Musik für lange Zeit“. Die gesamte (die sogenannte freie) Kultur-Veranstaltungsbranche hofft, einen Weg aus dem nebulösen Schwebezustand zu finden. Das Disharmonie-Team, die Macher im Stattbahnhof, das Programmkino KuK, der KulturPackt, die Poetry Slammer, die Mitglieder der Schweinfurter Autorengruppe SAG, sie alle basteln kreativ an Programmen mit Kleinkunst oder Jazz, und das für eine sehr überschaubare Besucherzahl. Sie suchen Veranstaltungsplätze im Freien und größere Veranstaltungsräume, sie tüfteln Hygienekonzepte aus, damit sich 30 Besucher sicher fühlen können. Der KulturPackt verschiebt das geplante Kunstkaufhaus und das Kurzfilmfestival, veranstaltet die Nacht der Kultur im Miniformat auf dem Marktplatz. Der Stattbahnhof freut sich an Biergartenveranstaltungen. Die Disharmonie findet die Stadthalle, in der mehr Menschen Freude an Kabarett haben können. Auch die Poetry Slammer treffen dort mit ihrem „Wortsport“ ihre Bewunderer. Die Schweinfurter Autorengruppe SAG lädt zu Lesungen in Wipfeld oder Stadtlauringen ein. Und das klappt alles wunderbar, aber nur immer halb und ein bisschen. Das Blümchen Kultur kommt im Stop-and-Go-Rhythmus fast ein klein wenig zum Blühen. Das Publikum ist beglückt. Es ist gierig nach Kultur. Und die Künstlerinnen und Künstler sind glücklich, wieder auftreten zu dürfen. Der Geldbeutel aber ist leer. Mini-Veranstaltungen rechnen sich nicht.

Die finanzielle Situation der gesamten Kulturbranche ist ein Desaster. Künstlerinnen und Künstler neigen nicht dazu, auf die Straße zu gehen und laut auf sich aufmerksam zu machen. Ein paar Hinguckaktionen wie die bundesweite „Night of Light“-Aktion im Juni, in der Kulturgebäude in rotes Licht getaucht werden, evozieren kurzfristige Aufmerksamkeit für die miserable Lage der Kulturschaffenden. Alarmstufe Rot! Die Disharmonie, der Stattbahnhof strahlen rot, nicht das Theater der Stadt Schweinfurt.

Unerwartetes setzt Zeichen: Der KulturPackt organisiert „Künstler in Not“, und eine Gruppe von Schweinfurter Kulturakteuren gründet die spektakuläre Solidaritäts- und Spendenaktion „Keiner kommt nach Schweinfurt – alle machen mit“. Viele Menschen spenden für die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler und für die Kultur-Veranstaltungsbranche, die völlig ausgebremst ist. Eine Summe im hohen fünfstelligen Bereich kommt zusammen. Das ist zumindest ein Lichtblick für die Kulturschaffenden, lässt aber die Zukunftsfragen völlig offen. Die Zuschuss-Kürzungen der Stadt für das Jahr 2021 verschärfen die desaströse Situation.

Seit November: Lock down light! Jegliche Auftrittsmöglichkeit: gestrichen! Noch mal ein finanzieller Einbruch, auch ein persönlicher, ein künstlerischer. Kultur lebt vom Miteinander der Kunstschaffenden und dem Publikum. Und das gibt es im Moment nicht. Nicht mal einen Corona-Blues. Sogar der Corona-Blues ist eingeknittert. Es bleibt die Hoffnung, dass der Flyer für den Corona-Blues der Schweinfurter Autorengruppe SAG wieder glattgestrichen werden kann. Und dann, ja dann gibt es ein neues Thema. Aufatmen. Premiere für alle? Applaus in vollen Häusern? Gemeinsames Singen am großen Christbaum auf dem Marktplatz? Ein Weihnachtstraum.                       J. B.