Literatur im Groschenheft Oktober 2021 – Linde Unrein

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„Venus löst die Sandale, oder Der, Die, Das Dritte” 2020, Acryl, Tusche, Pignemtstift auf Leinwand, 180 x x200cm - von Linde Unrein
Linde Unrein

Linde Unrein ist promovierte Ärztin und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Erkrankungen und Funktionsstörungen des Gehirns und der Psyche. Die gebürtige Stuttgarterin lebt und arbeitet seit 1987 in Schweinfurt. Die ärztliche und wissenschaftliche Tätigkeit begleitet sie mit einem umfassenden kreativen Schaffen.
Linde Unrein hat ein grenzüberschreitendes Multitalent. Sie ist Malerin und Zeichnerin und Wortkünstlerin. Als bildende Künstlerin hat sie sich durch viele höchst beachtenswerte Ausstellungen einen Namen gemacht und ist Mitglied im Berufsverband Bildender Künstler Würzburgs und Unterfranken und in der Vereinigung Kunstschaffender Unterfranken.
Als Poetin engagiert sie sich in dem Projekt „Leipzig liest“, in der GEDOK Franken und vor allem in der Schweinfurter Autorengruppe. Linde Unreins Texte, meist Gedichte, sind gefüllt mit Reflexionen und Beobachtungen und Anspielungen. Ihre Editionen tragen so wundervolle Titel wie „Sofameditationen“, „Absage an das große Ganze“, „Rein in die Bredouille“ oder „Körperszenen. Eros in Bedrängnis“.
Für die Groschenheft-Leserinnen und -Leser hat Linde Unrein eine melancholisch-heitere Geschichte geschrieben. Sie wurde inspiriert von einem Gemälde aus der Rokokozeit, dem Selbstportrait des Malers Georg Anton Urlaub aus Thüngersheim (es ist zu finden im Würzburger Museum für Franken). Malerei und Wortkunst gehen bei Linde Unrein oft Hand in Hand. Das Thema in der Geschichte „Auch mal wichtig“ passt sehr gut zum Roman „Ein Mann der Kunst“ von Kristof Magnusson, in dem es auch um den bewegten Kunstbetrieb geht (Lesung am 17. Oktober im Museum Georg Schäfer). Ein Thema, aber vollkommen unterschiedlich geschrieben. So lebendig kann Literatur sein!

www.lindeunrein.de

Auch mal wichtig

Ich bin … Pst, pst. Am Schluss werdet ihr es wissen. Wissen braucht Zeit und ordnenden Verstand. Also geduldet euch. Ich beginne zu erzählen:

Es kommt beim Morgengrau an einem Wintertag eine Gruppe von Menschen – bedeutende wohl – die Treppe unseres Museums herauf. Ihre Mäntel haben sie in den Büros zurückgelassen, betreten den ersten Saal, bleiben in Gruppen vor einigen von uns stehen, kurz auch vor mir. Alphatiere, Schmeichler – die Rede hin und her: sicher, ein Konsens lässt sich erzielen – es fehlen die Mittel – Einsatz darf man schon erwarten – was anderswo möglich ist – wir müssen die Standards hochziehen – das Publikum abholen – die Zahlen müssen stimmen. Ich kenne das schon, obwohl, vor zwanzig Jahren war die Atmosphäre anders.

Mir ist, als ob sich meine Lasur ein klein wenig eintrübte.

Kann ich in diesen Zeiten noch genügen? Doch was soll das Grübeln? War ich nicht vor zwei Jahren das Zentrum einer Jubiläumsausstellung. Seither fällt auf mich das Deckenlicht deutlich vorteilhafter, ein extra Flyer über mich liegt an der Kasse vorn und vermittelt Wissen über mich, mir selbst verborgen. So wie sie sich gebärden, bin ich beim nächsten Event nicht dabei. Schau, schau ein roter Teppich, nicht für mich, Praktikantengewusel, Schrifttafeln – nicht für mich.

Mein Firnis zeigt erste feine Risse.

Das alles für ein profanes altes Schreibmöbel eines angeblich berühmten Kunstschreiners. Da schau her. Alt wie ich, aber nichts gegen meine Farbigkeit, meine erst auf den zweiten Blick zu durchschauende Komposition. Das wird die Besucher nicht von mir ablenken. Qualität wird erkannt: Meine Aussage, mein historischer Sprung, mein Geheimnis ziehen immer in Bann.

Ah, Preview nennt sich das, was am nächsten Tag stattfinden soll. Hatten wir bisher noch nicht. Mich sieht doch tatsächlich keiner an. Sie ziehen im Schwarm, vollführen Drehungen, Pirouetten, ausholende Gesten, der Raum erfüllt von sonorem Reden, kurzem Auflachen. Sie ziehen tatsächlich davon, ohne von mir Notiz zu nehmen.

Der Rahmen drückt jetzt ein wenig, die Leinwand spannt.

Selbstportrait des Malers Georg Anton Urlaub aus Thüngersheim

Beruhige dich. Du standest auch schon für Jahrzehnte auf einem Speicher, du standest schon im dritten Stock im Depot. Es ist dann halt mal wieder vorbei mit den Fahrten mit Hasenkamp und Co. nach NY und zurück. Zur anstehenden Renovierung können sie mich dann ja verkaufen, die Undankbaren, bei Sotheby’s oder auf ähnlichen Marktplätzen. Komme dann über der Sitzgruppe eines Oligarchen zu hängen, oder, klein wie ich bin, an die Rückwand der Bar einer messingblitzenden Yacht. Mein Vertrauen in meine Bedeutung ist erschüttert. Gerate ich schon in den Sog des ewigen Vergessens? Ich weiß es nicht. Sicher ist es noch nicht.

Besucht mich doch mal. Ich bin das Bild im ersten Stock, 80 mal 60 Zentimeter, im ersten Saal gleich rechts neben dem Eingang. Die Aufsicht kommt hier selten vorbei. Ihr könnt also ganz nah ran gehen. Bleibt bitte vor mir stehen, und in euren Augen werde ich lesen: einzigartig schön, interessant und ganz erstaunlich für seine Zeit.