Literatur im JuliAugust-Groschenheft – von Günter Hein

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Auch in den Sommermonaten Juli und August hat die Schweinfurter Autorengruppe SAG den Laptop nicht ausgeschaltet und den Bleistift gespitzt. Sie schreibt an gegen Corona-Frust und öffnet die Augen und die Herzen für Lesefreuden. Ganz im Sinne von Joseph von Eichendorff:

Die handeln und die dichten,

Das ist der Lebenslauf,

Der eine macht Geschichten,

Der andre schreibt sie auf,

Und der will beide richten;

So schreibt und treibt sich’s fort,

Der Herr wird alles schlichten,

Verloren ist kein Wort.

Günter Hein

Bei Günter Hein ist „kein Wort“ „verloren“. Denn er ist ein Meister des Geschichtenschreibens. Günter Hein, im ersten Leben Studiendirektor am Bayernkolleg Schweinfurt für die Fächer Englisch und Französisch, im zweiten Leben Schriftsteller. Die Prosa ist – neben Theaterstücken – sein Genre. Günter Hein ist kein Unbekannter in der Schweinfurter und in der überregionalen Literaturszene. Sogar zum renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis war er schon eingeladen. In der Magazinsendung „Sonntagsbeilage“ von Bayern 2 waren seine Geschichten häufig präsent.

Günter Hein nimmt Themen ins Visier, die wir alle kennen, und das auf seine unnachahmliche Art: Mit spitzbübischem Augenzwinkern und charmanter, humorvoller Lockerheit, oft ironisch, immer mit einem Hauch Melancholie und einem präzisen Blick für Details und Menschenkenntnis. Er verkrallt sich nicht in den Trostlosigkeiten des Lebens, aber sein Blick bleibt immer kritisch auf das Wesentliche gerichtet.  Heins Editionen haben schöne Titel wie „Notturno“ oder „Gezeitenwechsel“.

Jetzt können wir hier eine Geschichte von Günter Hein lesen, die nichts, aber auch gar nichts mit Corona zu tun hat, aber viel mit Klimawandel und Mobilitätswende.

Die Macht der Zahlen

Mein erstes Geld verdiente ich, da war ich vielleicht elf, zwölf Jahre alt. Es war nicht viel. Zehn Deutsche Mark. Aber es war leicht verdientes Geld. Für eine sitzende Tätigkeit. Die Tätigkeit bestand eigentlich nur darin, senkrechte Striche auf ein weißes Blatt Papier zu machen.

Letztendlich ging es um Infrastruktur. In ihrer Sorge um die Zukunftsfähigkeit unserer Stadt hatten ihre Väter beschlossen, eine Verkehrszählung durchzuführen. Nach einem ausgeklügelten Plan wurde festgelegt, an welchen zentralen oder aber peripheren, ableitenden Abschnitten des Straßennetzes gezählt werden sollte. Für die Zählung heuerte man Schüler der örtlichen Gymnasien an. Es waren Ferien. Ich meldete mich. Schließlich ging es um die Zukunft unserer Stadt. Und um zehn D-Mark.

Und so saß ich denn eines Morgens auf einem Klappstühlchen am Rand einer Ausfallstraße, einen Kugelschreiber in der Hand, im Schoß eine Kladde, und machte fleißig Striche in die jeweilige Spalte, je nachdem ob ein Fahrradfahrer, ein Motorradfahrer, ein PKW, ein LKW oder ein Bus vorbeikam.

Fahrradfahrer waren eher selten. Bei den wenigen solchen handelte es sich zumeist um Kinder, die offenbar auf dem Weg zu einem nahegelegenen Spielplatz waren.

Sie fuhren an mir vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken. Die allermeisten jedenfalls. Einem der Aufgeweckteren fiel aber doch der komische Schreiberling auf, der da am Straßenrand hockte und einen Strich in sein Heft machte, als er an ihm vorbeiradelte. Er wunderte sich. Er fuhr ein Stück zurück … und bekam wieder einen Strich. Er fuhr wieder ein Stück in Richtung Spielplatz: Noch ein Strich. Er überlegte … und erkannte das Prinzip! Von da an fuhr er nur noch auf und ab an mir vorbei und sah mit grinsender Genugtuung, dass er jedes Mal seinen Strich bekam.

Als ihm das ständige Auf und Ab zu eintönig wurde, fuhr er weiter zum Spielplatz und machte dort allem Anschein nach seine Entdeckung, die er bis dahin exklusiv für sich genutzt hatte, öffentlich.

Mit einem halben Dutzend Begleitern kam er zurück. Sie lachten und johlten, indem sie immer wieder hin und her an mir vorbeifuhren, und ich machte bei jeder einzelnen Vorüberfahrt pflichtschuldigst einen Strich in der Spalte Fahrradfahrer. Die Zweiradfahrer nahmen mich so sehr in Anspruch, dass ich Schwierigkeiten hatte, auch noch allen anderen Verkehrsteilnehmern vollauf gerecht zu werden.

Die Ergebnisse der Verkehrszählung bewegten sich weitgehend im Rahmen der Erwartungen. Auffällig war nur ein völlig unerwartet hohes Aufkommen an Fahrradfahrern, speziell an einer ganz bestimmten Ausfallstraße. Die Grünen, damals noch in ihren Anfängen, jubelten und sahen bereits eine Trendwende weg vom Automobil und hin zum umweltfreundlichen Fahrrad. Sie verlangten, dass dem erfreulich hohen Aufkommen an Zweiradfahrern auf jeden Fall Rechnung getragen werden müsse. Sie forderten den bedarfsgerechten Ausbau eines Radwegs neben jener Ausfallstraße. Und setzten sich mit ihrer wohlbegründeten Forderung auch durch.

Der Radweg ist heute wenig frequentiert; an vielen Stellen ist Gras darüber gewachsen.