Literatur im Groschenheft November 2021 – Anika Peter

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Anika Peter

Die jüngste Autorin in der Schweinfurter Autorengruppe SAG, Anika Peter, hat eine enge Beziehung zu Schweinfurt, ihrem derzeitigen Lebensmittelpunkt.

Viele Steine musste sie in ihrem Leben schon zur Seite räumen, aber sie meisterte es, am Bayernkolleg das Abitur nachzuholen und einen akademischen Weg einzuschlagen. Sie schaffte den Bachelor im Fach Sonderpädagogin mit dem Schwerpunkt verhaltensgestörte und auffällige Menschen.
Sie arbeitete in der Straßensozialarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen und ist zurzeit als gesetzliche Betreuerin tätig. Den Masterstudiengang Sonderpädagogik konnte sie wegen Corona noch nicht beenden.

Anika Peter hat ein enges Verhältnis zur Literatur. Die Wurzeln ihres Schreibens liegen im Poetry Slam. Obwohl sie sich von diesem Genre schon seit längerer Zeit verabschiedet hat, spürt man in ihren Texten immer noch das Spoken Word. Rhythmisches Sprechen, lyrisches Sprechen, das kann sie sehr gut. Oft ist bei Anika Peter das Dunkle, das Scheitern die Quelle der Poesie. Sie bohrt in den Wunden der Gesellschaft, hat aber auch die absurde Komik des Alltags auf dem Schirm. Das spürt man auch in ihren Kurzprosatexten.
Die Kurzgeschichte „Treue Freunde“ zeigt, dass Anika Peter genau hinschauen und ihre Figuren mit präziser Lakonie erfassen kann.

Treue Freunde

Sie stand auf dem Marktplatz und blickte in den Himmel. Ein warmer Frühlingstag. Die Sonne auf der Haut. Sie genoss die Wärme, die wohltuende Umarmung des Lichts. Heute war ein guter Tag. Sie hatte es geschafft, pünktlich aufzustehen, aufzuräumen und einkaufen zu gehen. Irgendwann würde sie es vielleicht auch wieder schaffen, richtig arbeiten zugehen. Ja irgendwann, das hatte sie sich fest vorgenommen. Doch für heute genügten ihr die wohlige Wärme, das helle Licht und ihr wieder aufkeimender Tatendrang. Vielleicht würde sie heute sogar ihre Mutter anrufen oder eine ihrer Freundinnen, vielleicht würde sie sogar mit einer von ihnen etwas essen gehen. Vielleicht würde sie aber auch ins Kino gehen, ganz allein und sich eine große Tüte Popcorn kaufen und den süßen Mann an der Kasse nach seiner Nummer fragen. Sie war ewig nicht mehr im Kino gewesen, sie war eigentlich ewig nicht mehr irgendwo gewesen.
Oft wusste sie nicht, welcher Tag gerade ist, welche Woche im Jahr und überhaupt; sie wusste sehr lange eigentlich gar nichts mehr. Wer sie war, wie sie heißt, wo sie wohnte, wo sie war, wo sie hinwollte und was sie tun wollte. Es war sehr lange alles grau, monoton und stumm. Jemand sagte einmal zu ihr, sie solle sich doch waschen gehen, sie stinke. Dann verlor sie ihren Job, ihre Freunde, den Kontakt zu ihrer Familie. Und irgendwann ging sie nicht mehr aus dem Haus, sie verkroch sich in ihrer stickigen Wohnung und wollte ersticken an all den Gedanken, den Gefühlen, dem Dreck.
Und dann ganz plötzlich wurde das Grau dunkler und dunkler. Sie sah nur noch schwarz. Schwarz war jeder Tag, schwarz war ihre Seele, schwarz war die Zukunft, alles war schwarz, sogar ihre Kleidung. Sie verkroch sich immer weiter und weiter in ihrem Dreck, steckte den Kopf unter die Decke und wurde unsichtbar, für andere, für sich und für die ganze Welt.
Irgendwann dachte sie daran, dass sie einfach einmal was trinken könnte. Früher hatte sie gern getrunken, war gerne ausgegangen und hatte mit ihren Freunden fröhlich gefeiert. Sie ging in den Kiosk um die Ecke und wollte eigentlich nur ein Bier holen. Sie holte ein Bier, einen Kurzen und zwei kleine Flaschen Schnaps. Von da an wurden billiges Bier, billiger Schnaps und billiger Wodka ihre täglichen Begleiter, drei Freunde, die Trost spenden in einer trostlosen Zeit. Mit ihnen war es zwar auch schwarz, doch sie machten die Schwärze erträglicher.
Sie öffnete ihre Briefe nicht mehr, antwortete nicht auf Anrufe und ignorierte das Klopfen an der Tür. Irgendwann bekam sie eine Räumungsklage, doch ihre Mutter und ihr Vater wendeten sie ab. Sie zahlten ihre Miete und entschuldigten sich bei der Baugenossenschaft. Ihr war das egal, so lange sie Taschengeld bekam und der Pegel stimmte.
Eines Abends hatte sie sich so zugesoffen, dass sie am nächsten Morgen in ihrem eigenen Erbrochenen nackt in der Badewanne aufwachte. Ihre Mutter kam anfangs noch häufig zu Besuch, versuchte mit ihr zu reden und räumte die Bude für sie auf, manchmal kam sogar ihr Vater mit. Der blieb aber meist kopfschüttelnd im Wagen vor der Tür sitzen und weigerte sich, mit ihr zu reden. Irgendwann wurden diese Besuche auch weniger, und seit einiger Zeit kam niemand mehr. Nicht einmal die Nachbarn grüßten sie mehr.
Aber ihr war das egal, sie fühlte sich taub, stumm, gefühllos. Eines Abends, es war der schlimmste von allen, stand sie auf der Brücke über dem Fluss. Sie wollte springen und versinken, ertrinken im kalten, nassen und schwarzen Wasser. Ertrinken mit all ihre Taubheit, Reglosigkeit und Schwärze. Sie sprang. Aber ihr Körper machte nicht mit. Er schwamm, schwamm in Richtung Oberfläche und an das Ufer. Triefendnass stieg sie das Ufer hinauf und direkt auf die Straße zu. Wenn sie nicht ertrinken konnte, dann konnte sie wenigstens überfahren werden. Es tat einen lauten Knall, Reifen quietschten, sie wurde in die Luft geschleudert. Gleißende Helligkeit. Tief schmerzende Dunkelheit. Sie wachte in einem Krankenbett auf und ihr lächelte eine Ärztin entgegen. Sie sagte etwas von Schädel-Hirn-Trauma, gebrochenen Rippen, gebrochenem Bein, schweren Schürfwunden und einem sehr hohen Alkoholpegel. Sie musste fünf Wochen im Krankenhaus bleiben.
Fünf Wochen kalter Entzug. Es waren die schlimmsten fünf Wochen ihres Lebens. Man wollte sie in eine psychiatrische Anstalt einweisen, sie verweigerte sich. Sie sagte, sie schaffe das schon, ganz alleine, sie hatte doch bis jetzt alles alleine geschafft, zumindest fast. Das war jetzt drei Monate her. Mittlerweile schaffte sie es, rechtzeitig aufzustehen, sie schaffte es sogar, ihre Wohnung sauber zu halten und zu ihren Psychiater-Terminen und den Alkohol-Tests zu gehen. Das machte sie freiwillig, sie wollte doch wieder alles hinkriegen, irgendwie.
Und heute war seit langem ein guter Tag. Ein Tag mit Sonne, mit Licht, mit ein bisschen Freude. Sie stand also auf dem Marktplatz und hob den Kopf Richtung Hoffnung. Sie blickte sich um. Dann sah sie ihn. Er stand ein paar Meter abseits vom Gedränge an einem Laden. Vor sich einen Kinderwagen und im Arm ein kleines Mädchen, ein halbes Jahr vielleicht. Seine Frau gab ihm einen Kuss. Woher sie wusste, dass es seine Frau war? Sie hatte sein Leben online verfolgt. Wie sie sich kennen gelernt haben, ihre Verlobung und ihr erstes gemeinsames Kind. Ihre Urlaube, ihre Wohnorte und ihre Jobs. Sie wusste alles. Es tat so weh. Vor einer schon längst vergessenen Zeit hatte sie einmal geglaubt, sie wäre die Frau an seiner Seite. Die Frau, mit der er in den Urlaub fahren, mit der er sich verloben, die er heiraten und mit der er ein Kind haben würde und überhaupt. Sie war doch die Frau gewesen, die ihn glücklich machen wollte. Sie hatte ihn geliebt, mehr als sich selbst. Für einen kurzen Moment glaubte sie, dass er sie wahrnahm und taxierte, doch dieser Moment verflog so schnell wie er gekommen war. Sie wandte sich ab und lief los, lief in den nächsten Laden und kaufte sich ein Bier, einen Kurzen und zwei kleine Schnaps. Diese Freunde waren ihr wenigstens treu.