Literatur im Groschenheft – Günter Hein · literarischer Nachklapp zu den Olympischen Spielen

1098

    Günter Hein, der Meister des ironisch-pointierten Geschichtenschreibens und ein Herzstück der Schweinfurter Autorengruppe SAG, mit großem Fan-Kreis, 2021 Sieger beim Schweizer Schreibwettbewerb Ü70, hat ein waches Auge auf alles, was die Welt bewegt.
Seine spitze Feder ist oft im Einsatz.
Die Olympischen Spiele reizten ihn, weniger die unsäglichen politischen Umstände dieses Events, sondern eher die Arten und vor allem die Unarten des Leistungssports. Schon einmal hat er in der Geschichte „Medaillenspiegel“ (veröffentlicht im Erzählband „Notturno“) dieses Thema seiner Schreiblust unterzogen.
Und jetzt hat er das weibliche Pendant unter der harmlos klingenden Überschrift „Wintersport“ geschrieben. Pikant und perfekt gegendert.

„Wintersport“

Früher war Hanni Kiesinger eine außerordentliche Schönheit. Traumfrau. Prachtweib. Tolle Figur. Der Schwarm der Männer.

Hanni Kiesinger war Spitzensportlerin. Ihres Zeichens Eisschnellläuferin. Vielfache nationale Meisterin in ihrer rasanten Sportart. Durch Begabung und unermüdlichen Trainingsfleiß brachte sie es gar bis zur Olympiateilnahme.

Auf der internationalen Ebene freilich haftete ihr der Ruf der Ewigen Zweiten an. Sie hatte noch keinen großen internationalen Wettbewerb gewonnen. Stattdessen häufte sich Silber in ihrer häuslichen Vitrine. Silber und immer wieder Silber.

Und nun stand wieder einmal Olympia vor der Tür. Diesmal wollte sie es unbedingt wissen. Dieses Mal musste der Griff nach Gold gelingen!

Sie trainierte wie besessen. Mehr denn je. Nahm unsägliche Entbehrungen und Mühen auf sich und allerlei Nahrungsergänzungsmittel zu sich. Und doch: Es gelang ihr nicht, ihre persönliche Bestzeit weiter zu verbessern. Das eine um das andere Mal kam sie exakt an ihren persönlichen Rekord heran, stellte ihn wieder und wieder auf die Zehntelsekunde genau ein, war aber nicht in der Lage, ihn auch nur um eine Hundertstelsekunde zu unterbieten. Es war, als würde sie gegen eine unüberwindliche Mauer anrennen, als hätte sie definitiv die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit erreicht.

Hanni Kiesinger war todunglücklich. Sollte das heißen, dass sie wieder nur Zweite würde? Dabei hätte eine Steigerung um einige winzige, lächerliche Zehntelsekunden sie zur todsicheren Favoritin gemacht.

Sie beriet sich mit ihren Trainern, ihrem Physiotherapeuten, ihrem Psychologen, ihrem Diätassistenten, ihrem Sportarzt. Nach all den fruchtlosen Anstrengungen waren sich schließlich alle einig, dass der eigentlich so kleine und doch so ungeheuer schwere Schritt von Silber zu Gold nur durch außergewöhnliche, nämlich durch im wahrsten Sinn des Wortes einschneidende Maßnahmen zu bewerkstelligen wäre.

Der entscheidende Anstoß kam schließlich von ihrem Sportarzt. Wie schon eingangs erwähnt, hatte Hanni Kiesinger eine tolle Figur. Was jedoch für manche Betätigungen durchaus wünschenswert sein kann, ist für andere eher hinderlich. Was im gewöhnlichen Leben die Lust fördert, kann im Hochleistungssport zur Last werden, eine Last, die Hanni Kiesinger durch lange fünftausend Meter mit sich herumtragen musste.

Man legte ihr eindringlich dar, dass, wie einmal gesagt wurde, der Sport tatsächlich die Religion unseres Jahrhunderts sei, die Funktionäre ihre Hohenpriester. Und Religion verlange nun einmal um eines Höheren willen Verzicht, Selbstverleugnung, Askese, Kasteiung, die Abtötung des Fleisches.

Hanni Kiesinger zögerte dennoch.

Ihr Sportphysiologe rechnete ihr nach etlichen Messungen und Wiegungen auf die Zehntelsekunde genau aus, wie viel Zeit ihre opulente Weiblichkeit sie auf fünftausend Meter kostete. Das Ergebnis seiner Berechnungen war eindeutig: Ein Verzicht auf jenen – freilich nicht unwesentlichen – Teil ihrer weiblichen Schönheit würde sie um genau die Sekundenbruchteile schneller machen, die noch bis zum Gold fehlten.

Hanni Kiesinger zögerte noch immer.

Aber ihr Sportarzt setzte ihr zu. Ihr Trainer drang in sie. Der Bundestrainer appellierte an ihren Patriotismus. Der Präsident des deutschen Nationalen Olympischen Komitees erinnerte an die Nationenwertung, forderte eine mannhafte Entscheidung, sprach von höheren Belangen, von der ganzen Nation, die auf sie blicke, von nationaler Pflicht!

Schließlich willigte Hanni Kiesinger ein.

Zum olympischen Wettbewerb über fünftausend Meter trat Hanni Kiesinger deutlich erleichtert an. Sie erreichte mühelos das Finale, lief im Endlauf auch prompt neue persönliche Bestzeit – wurde allerdings von einer hübschen Konkurrentin mit guter Figur um Brustbreite geschlagen.

Hanni Kiesinger blieb Silber.