„Tage mit Felice“ von Fabio Andina – Buchvorstellung

682
„Tage mit Felice“ lässt die Leserin, den Leser eintauchen in eine einfache, entschleunigte Welt.

Johanna Bonengels Buchtipp
Radikal einfach und trotzdem eine erstaunliche Fülle

Vor Weihnachten legte mir ein Freund, der die Literatur liebt, einen Roman ans Herz, von dem er meinte, dass er einen klugen Kontrapunkt zur Gegenwart setzt, in der Überfluss bisher Alltag war und die Menschen sich nervös für das Überleben rüsten.

Er fasste sein Leseerlebnis so zusammen: „Nichts passiert und trotzdem eine Fülle. Das Baden im kalten Tümpel steht uns ja noch bevor.“ Ich habe den Roman gelesen und war beglückt und angerührt von der Geschichte des 90-jährigen Felice in den Tessiner Bergen, der sein Leben auf das Wesentliche des Daseins beschränkt.

Felices Leben ist fest einbezogen in die Geschichte jahrhundertealter Steinhäuser, in dichte und dunkle Kieferwälder, in tiefe Schluchten, im Schweizer Bleniotal. Er setzt sich bewusst den Härten der Jahreszeiten und des Daseins aus, bewältigt seinen Alltag im Einklang mit der Natur und ist immer fröhlich und bescheiden.

Der Ich-Erzähler, der als Kind die Sommerferien regelmäßig im Tessin verbrachte, begleitet den Felice wie ein Schatten acht Tage lang und passt sein Leben Felice an. Er will überprüfen, ob er auch so leben könnte wie der alte Felice. Man kann die Geschichte als ein Experiment verstehen. Was die erzählte Geschichte mit dem Ich-Erzähler macht, erfährt man nicht.

Das Experiment des Ich-Erzählers beginnt am frühen Morgen eines regnerischen, kalten Novembertags. Er bricht mit Felice barfüßig in aller Frühe auf, nimmt ein tägliches, fast zeremoniell ablaufendes Bad in der eiskalten Fels-Wanne, genannt Gumpe: „Er zieht sich aus. Seine Haut scheint im Kontrast zu der Dunkelheit ringsum zu leuchten. Keine Unterhose. Die Shorts und das Hemd hängt er an einen nahen Tannenzweig, und dann steigt er ohne Zögern in das Becken, ganz hinein, ganz nackt, genau wie man es sich erzählt. Ich stehe reglos da und halte den Atem an aus Furcht, dass selbst die kleinste Bewegung mich von diesem Moment ablenken könnte.“

Felice zelebriert einen bedächtig ablaufenden Tag: Das Beheizen des Sparherds, die Zubereitung des Kräutertees und des Frühstücks mit Kakis aus dem Garten, Maroni und Joghurt. In jedem Tun wird deutlich, wie Felice Pflanzen und Tiere mit großer Wertschätzung behandelt. Er kommt mit dem aus, was die Natur bietet oder was ihr abgerungen werden muss. Er ist selbstgenügsam, aber auch eingebettet in die soziale Harmonie des Dorfes und vor allem in die wuchtige Landschaft. Der knorrige Kauz Felice ist sehr einsilbig, außer „ben“, „bondi“, „mersi“ ist nicht viel von ihm zu hören.

Der 90-Jährige ist Teil der Realität des rauen Tessiner Bergdorfs Leontica, das alles andere als idyllisch ist. Aber mit Sozialromantik oder gar Esoterik hat das Leben von Felice nichts, aber auch gar nichts zu tun. Letztlich hat Felice, der das Glück schon im Namen trägt, ein gutes Leben geführt, ohne sich darum zu bemühen oder dies jemals auszusprechen.

„Tage mit Felice“ lässt die Leserin, den Leser eintauchen in eine einfache, entschleunigte Welt. Der Ich-Erzähler, hinter dem der Autor Fabio Andina steht, hat die stillen Tage mit Felice genau beobachtet und mit großer Intensität und Sorgfalt beschrieben. Die Kargheit der Sprache voll kraftvoller Poesie spiegelt das schlichte Leben von Felice wider. Langeweile kommt an keiner Stelle auf, obwohl so wenig geschieht. Die „Tage mit Felice“ sind ein Leseerlebnis, das lange nachwirkt. Ein besonderer Roman!

Zum Autor: Fabio Andina, 50 Jahre alt, wurde in Lugano geboren, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er im Blienotal, dem Lebensmittelpunkt von Felice. „Tage mit Felice“ ist sein zweiter Roman. Im April 2023 wird der Roman „Davonkommen“ erscheinen.

Tage mit Felice. Aus dem Italienischen von Karin Diemerling. Piper-Verlag, München 2020. 235 Seiten. 12 € (Taschenbuch).