Johanna Bonengels Buchtipp: „Die Nacht unterm Schnee“ von Ralf Rothmann

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Es gibt ganz, ganz selten Romane, die mich so bewegen, dass ich das Buch nicht mehr aus den Händen legen kann. Ein solcher Roman ist „Die Nacht unterm Schnee“ von Ralf Rothmann. Er schließt die Romantrilogie über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit in Deutschland ab und lässt zusammen mit den vorhergehenden Romanen „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018) ein unglaublich authentisch gezeichnetes Panorama der frühen Nachkriegsjahre lebendig werden. Es geht um das Leben junger Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs schwer traumatisiert ihr Leben weiterleben mussten. Liebe in Zeiten der Gewalt, das ist das große Thema des neuen Romans. Rothmann erzählt in seiner erneut familienbiografisch grundierten Geschichte aus einer ganz besonderen Perspektive und mit einer das Herz berührenden Protagonistin – er ist ein Meister der Gegenwartsliteratur.

Ralf Rothmann · Foto: Heike Steinweg

Der Roman beginnt mit einem Rückblick: das Landarbeiterkind Elisabeth, 16 Jahre alt, flieht mit einem Flüchtlingstreck aus dem bombardierten Danzig, wird von marodierenden Soldaten brutalst vergewaltigt und in einem Bunker unter der Erde, unter dem Schnee (Romantitel), von einem russischen Deserteur gepflegt und gerettet Das Durchlittene nimmt Elisabeth das Gefühl dafür, was sie selbst sich und anderen in einer Art verblendetem Überlebenswillen zufügt. Sie ist eine zutiefst verunsicherte Persönlichkeit. Nach 1945 sucht sie atemlos nach Selbstbestätigung und schnellen Glücksmomenten. Ihr Sohn Wolf, das ist der Autor Ralf Rothmann, blickt nach dem Tod Elisabeths mit trauriger Ratlosigkeit auf das Leben der Mutter zurück – seine „kleine wilde Mutter“. „Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen.“ (S. 10)

Wir lesen, wie Elisabeth nach dem Krieg den Melker Walter Urban kennenlernt, wie sie als Buffetkraft im Kieler Hafen schuftet, ein lockeres, unstetes Leben führt, Melkerin wird, das nur primitive Grundbedürfnisse zulässt, zwei Kinder zur Welt bringt, mit Walter ins Ruhrgebiet zieht, der dort als Hauer unter Tage arbeitet, wie sie von dem eintönigen Leben als Mutter und Hausfrau frustriert ist, von einem Rummel zum anderen tanzt und doch in all ihrer Verzweiflung den Willen, Walter und ihre beiden Kinder zu lieben, nie vergisst.

Ein eindringlicher, ein sinnlicher, gleichzeitig in seiner gnadenlosen Sachlichkeit erschütternder Roman. Er macht deutlich, welche Verheerungen der Krieg in den Seelen der Menschen hinterlässt. Dieses Buch sollte man unbedingt lesen.

Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller heute in Berlin. Er schreibt Romane, Erzählungen und Gedichte, für die er schon vielfach ausgezeichnet wurde. Im Zentrum seines Schreibens steht die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart.

Die Nacht unterm Schnee. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022, 305 Seiten, 24 €.