Johanna Bonengels Buchtipp: „Pompeji oder die fünf Reden des Jowna“

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„Ein Tanz auf dem Vulkan” von Eugen Ruge

Über das Ende des antiken Pompeji nach dem Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 nach Christus wissen wir recht gut Bescheid. Aber in Eugen Ruges Roman lesen wir in der Vorrede: „Vergiss, lieber Leser, alles, was du jemals über Pompeji gehört hast. Glaube nicht denen, die sagen, sie hätten es schon immer gewusst. Vergiss und lies. Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner.“ (S. 11)

Ein fulminanter und Neugierde weckender Start in den „wahren Bericht“, der sich in den 17 Jahren zwischen dem großen Erdbeben im Jahr 62 und der finalen Katastrophe abspielt. Die Geschichte vom drohenden Vulkanausbruch beginnt damit, dass am Berg oberhalb der Stadt tote Vögel gefunden werden, und den Menschen im obskuren Vogelschutzverein wird bald klar, dass man auf einem giftige Dämpfe spuckenden Vulkan lebt.

Ruge erfindet eine kuriose Hauptfigur namens Jowna (alias Josephus alias Josse), die aus ärmlichem Milieu stammt, der weder Schulbildung, Geld noch Einfluss hat. Der Autor nimmt uns mit auf eine höchst skurrile Aussteiger- und Aufsteigergeschichte. Jowna erliegt der Verführung durch Ruhm und Reichtum. Opportunistisch wirft er alle seine Prinzipien über Bord und verrät seine Freunde aus der „Aussteigerbewegung“ mit ihrer Vorliebe für Fliegenpilzsud und philosophisch verbrämtem Nichtstun. Jowna erkennt die drohende Gefahr durch den Vulkan, lässt sich jedoch von der mächtigen Unternehmerin Livia anwerben und plädiert nun für ein „Leben mit dem Vulkan“. Er kultiviert seine rhetorischen Talente, entfaltet eine politische Bewegung und katapultiert sich in höhere Kreise. Er wird gefördert, gefeiert, umschwärmt, beneidet. Am Ende steht Jowna mit nichts da – zwischen fliegendem Bimsstein, fließender Lava und herabstürzender Pyroklastika.

Ruge bettet diesen hauptsächlichen Handlungsstrang in eine höchst amüsant erzählte Tour d’ Horizon durch Pompeji, einer ursprünglich samnitischen, aber seit langer Zeit römisch verwalteten Provinzstadt. Kaiser Vespasian, Epikur, Plinius, antike Rhetorik werden heiter eingebunden in Geschichten elend lebender Menschen, aber vor allem in lebendig und differenziert erzählte Geschichten der Herrschenden, der erotischen Begegnungen, der opulenten Festmahle. Römische Dekadenz und Sittenlosigkeit in Reinkultur.

In dieser Welt siedelt Eugen Ruge seine Parabel an, die voller Anspielungen auf Praktiken des modernen Politbetriebs steckt. Heutige Begriffe und Denkmuster werden wie selbstverständlich von antiken Figuren gebraucht. Auch in Pompeji werden Themen „in den Fokus genommen“, Investoren „ins Boot geholt“, es gibt „Männerphantasien“, Pompejaner sagen „Jetzt komm mal wieder runter“. Der Witz des so gar nicht historisch wahren Romans besteht darin, dass die Menschen von damals wie die heutigen fühlen, denken und handeln. Bis in den Untergang ist die Pompeji-Gesellschaft geprägt von ideologischen Grabenkämpfen, Verschwörungstheorien, politischen Intrigen, Geschäftemacherei und populistischem Geschrei.

Ich habe „Pompeji“ gelesen als eine Parabel über Verführbarkeit, Verrat und Wahn. Der Roman hält uns einen Spiegel vor, wie wir auf die Katastrophen unserer Zeit reagieren, nämlich mit Augen zu und durch. Die Pompejaner leben auf einem Vulkan, aber niemand interessiert sich dafür. Es entwickelt sich eine verhängnisvolle Verblendung im Vorfeld einer Katastrophe. Auch die Klügsten und Aufgeklärtesten wollen die Wahrheit nicht sehen. Das klingt jetzt sehr moralinsauer; aber Eugen Ruge hat alles in eine gewitzte und sehr intelligent erzählte Handlung gepackt – versehen mit ein paar Nachhilfestunden in antiker Geschichte. Ein kluges Spiel mit dem Feuer des Vulkans und den Abgründen einer die Augen verschließenden Gesellschaft. Eugen Ruge ist mit seinem Roman ein großer Wurf gelungen! Lesen, unbedingt!

Eugen Ruge wurde 1954 in der Sowjetunion geboren und ist in der DDR aufgewachsen. Er ist Autor zahlreicher Theaterstücke, Hörspiele und Romane, die vorwiegend um seine Familiengeschichte kreisen. Großen Erfolg hatte er mit dem Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (Deutscher Buchpreis 2011). Ruge bezieht häufig zu gesellschaftlich und politisch relevanten Ereignissen Stellung.

Eugen Ruge: Pompeji oder die fünf Reden des Jowna, dtv Verlag. München 2023. 25 €.