Johanna Bonengels Buchtipp: „Die seligen Jahre der Züchtigung“

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Eine Novelle mit unerbittlichem Blick auf die menschliche Seele

Fleur Jaeggys herausragende Romane und Novellen gelten als Geheimtipp und werden auch jetzt in Deutschland neu entdeckt, wo sie auf begeisterte Resonanz stoßen. Die Autorin, 1940 in Zürich geboren, im Appenzeller Land aufgewachsen, aber seit vielen Jahren zurückgezogen in Mailand lebend, auf Italienisch schreibend, verfasst schmale Werke, die in keine einzige Schublade passen. Ob sie autofiktionale Geschichten schreibt, darüber schweigt sich Fleur Jaeggy aus.

Schon der Titel der Novelle überrascht mit dem Zwiespalt von „selige Jahre“ und „Züchtigung“. Ungewöhnliche Figuren und eine kühle, knappe, stark komprimierte und unangestrengte Erzählweise fesseln die Leserinnen und Leser von der ersten Zeile an. Die von Jaeggy hingetupften Welten können sich im Kopfkino entfalten.

Worum geht es in der Novelle? „Mit vierzehn war ich Zögling in einem Internat im Appenzell.“ So der erste Satz.  „Ein Arkadien der Krankheit. Dort drinnen scheinen Frieden und Todesidylle im schmucken Glanz zu herrschen. Ein Jauchzen aus Kalk und Blumen. Vor den Fenstern ruft die Landschaft, und das ist kein Trugbild, sondern ein Zwang, wie wir im Internat sagten.“ (S. 7) Das Leben im Internat wird skizzenhaft erzählt. Man liest von der Direktorin, breit wie ein Schrank, von den Zumutungen des täglichen Internatslebens, der Rituale und der Ordnungssysteme. Alle Beobachtungen werden nur hingetupft, ohne abschließende Erklärungen zu formulieren.

Die Ich-Erzählerin ist eine von vielen „Höheren Töchtern“. Ihr Leben im Internat, begleitet von einsamen Spaziergängen, erhält einen neuen Akzent, als eine Neue kommt. Sie ist sofort von ihr, von Frédérique, fasziniert, der sie mit tiefer und verzweifelter Neigung verbunden ist. Die Beziehung wird jedoch vom Schleier der kühlen Distanz überlagert. Frédérique ist die „Disziplinierte, Respektvolle, Ordentlich, Perfekte, beinahe zum Fürchten. Wo ging sie hin? Ich folgte ihr. Auch in die Leere brachte sie Ordnung.“ (S. 97) Andere Mitschülerinnen kreisen um die beiden: Marion, die die Ich-Erzählerin hasst, Micheline, die fröhliche Tänzerin, an Fastnacht „unerbittlich maskiert“, die afrikanische Präsidententochter, privilegiert und einsam. In Umrissen erzählt Fleur Jaeggy, wie die Psyche der Ich-Erzählerin durch Frédérique an Stabilität verliert und wie erotisches Verlangen aufbricht. Leiser Humor und nicht nur Tristesse schimmern ab und zu durch. Ein Beispiel: „Auf der Insel durften wir tun, was wir wollten. Jedoch niemals allein ausgehen. Immer zusammenbleiben. Wenn möglich zu zweien. In gerader Zahl. … Mater Hermenegild passte auf. Sie überwachte die Freiheit.“ (S. 55)

Fleur Jaeggy erzählt mit unerbittlichem, verstörendem Blick in die menschliche Seele. Verletzungen und Demütigungen werden benannt, aber nicht erklärt. Große Erzählkunst!

Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung. Novelle. Suhrkamp Taschenbuch. Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Berlin 2024 (Italienisches Original 1989). 110 Seiten. 12 €.

 

 

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