Weltklug und ein bisschen verspielt – Ein Roman über Literatur und Leben

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Johanna Bonengels Buchtipp

Für den Monat Juni habe ich den „Jahrhundertroman“ von Peter Henisch gewählt, der dem Schlachtenlärm unserer Tage einen leisen Ton gegenüberstellt. Der Wiener Autor gehört schon lange zu meinen literarischen Favoriten, denn seine Romane „Die kleine Figur meines Vaters“, „Die schwangere Madonna“ oder „Eine sehr kleine Frau“ haben mich vollkommen überzeugt. Sie brillieren mit Leichtigkeit, Vielschichtigkeit, Weltklugheit, erzählerischem Geschick, Humor und auch ein bisschen Verspieltheit. So auch im neuesten Roman von Peter Henisch.

Der Autor Peter Henisch. Foto: Eva Schobel

In den „Jahrhundertroman“ wird man mit einem nicht besonders aufregenden Plot in die Geschichte gelockt, die sich im Laufe des Romans zu einer reizvollen Auseinandersetzung mit dem literarisch-österreichischen 20. Jahrhundert weitet: Herr Roch, ein betagter, skurril wirkender Herr, Literaturwissenschaftler, Buchhändler und Antiquar, hat einen „Jahrhundertroman“ mit der Hand niedergeschrieben, festgehalten in einem viele Seiten umfassenden Manuskript, das er in digitales Format bringen will, was er selbst nicht beherrscht.

Und hier betritt die zweite Protagonistin die Romanbühne. Herr Roch trifft in seinem Stammcafé auf Lisa, eine Germanistikstudentin und Aushilfsbedienung, die er dazu bringt, in ihren Laptop das Romanmanuskript einzutippen. Roch hat einen Roman über Autoren des 20. Jahrhunderts geschrieben. Es geschehen allerlei kuriose Dinge mit dem Romanmanuskript, zum Beispiel gerät die Reihenfolge des Blätterstapels durcheinander oder die klein und sehr schräg geratene Handschrift Rochs ist kaum zu entziffern. In Rochs Zuhause, das sich als labyrinthisch anmutende Bücherhöhle entpuppt, vollgestopft mit den Resten seiner aufgelösten Buchhandlung, will Roch in seinem „Jahrhundertroman“ das Überleben der Bücher und der Autorinnen und Autoren sichern und der von ihm verachteten allgemeinen „Geschichtslosigkeit“ entgegenwirken. Roch möchte erreichen, dass Lisa das literarische Erinnern an die Stelle einer durchdigitalisierten, oberflächlichen Welt setzt.

Roch und Lisa versuchen vergeblich, Ordnung in das Manuskript zu bringen. Robert Musil, Joseph Roth, Thomas Bernhard, Franz Kafka, Ödön von Horvath, Schnitzler, Hofmannsthal, Karl Kraus, Heimito von Doderer, Ingeborg Bachmann, Friederike Mayröcker, Elias Canetti, Elfriede Jelinek, sie alle betreten die Bühne Rochs in seinem Depot in der Wiener Florianigasse. Henisch und sein sympathischer Herr Roch lassen sie in einer kuriosen Szenenfolge agieren.

Alles ist äußerst unterhaltsam und einfühlend erzählt, anekdotisch und kunstvoll versponnen.

Dass der „Jahrhundertroman“ nicht in die ferne und abgehobene Welt der Literatur abdriftet, beweist eine zweite Handlungsebene: Lisa ist eng mit Semira, Tochter einer syrischen Flüchtlingsfamilie, befreundet. Sie soll abgeschoben werden. Lisa hilft ihr, indem sie ihre Freundin in Rochs Bücherdepot verstecken will. Beim Eintreffen der jungen Frauen wird Roch gerade von einem Rettungswagen wegen eines erlittenen Schlaganfalls abgeholt. Die Rettung für Lisa und Samira und für die Literatur? Peter Henisch lässt dies offen.

Mein Fazit: Peter Henisch hat einen außergewöhnlichen Roman geschrieben, wunderbar leicht und elegant. Die unterschiedlichen zeitlichen, inhaltlichen und literarischen Ebenen bringen Spannung in den Handlungsablauf. Er kommt nicht ernst und vollgepackt mit intellektuellen wissenschaftlichen Ansprüchen daher. Nein, Heiterkeit, Melancholie und Herzenswärme, das macht die Qualität des „Jahrhundertromans“ aus.

Zum Autor: Peter Henisch, 1943 in Wien geboren, lebt und arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Musiker in Wien und in der Toskana. Er gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Das dokumentieren auch viele Auszeichnungen.

„Der Jahrhundertroman“, Residenz-Verlag, Salzburg-Wien 2021. 320 Seiten, 24 €.