1993: Der Fuß-Marsch nach Bonn

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Die Bonn-Marchierer 2018, aufgenommen in Bonn
In den Jahren 1990 bis 1992 gingen in der Großindustrie in Schweinfurt 6000 Arbeitsplätze verloren. Anfang 1993 kündigten die Firmenleitungen den weiteren Abbau in der gleichen Größenordnung an. Die Zahl der Kurzarbeiter hatte da schon Höchstmarken erreicht, eine Arbeitslosenzahl von 20 Prozent und mehr wurde prognostiziert. Die Angst ging um in Schweinfurt und der Region, die die Menschen aber nicht wort- und tatenlos hinnahmen.
Die von Arbeitslosigkeit betroffenen und bedrohten Menschen ergriffen die ihnen möglichen Gegenmaßnahmen: Mahnwachen, Schweigemärsche, eine Luftballonaktion, unvergessen ist die Großdemonstration mit über 10000 Menschen auf dem Marktplatz Schweinfurt und eine Menschenkette mit 15000 Teilnehmern, die die Großfirmen mit dem Arbeitsamt verband.
Und im Herbst 1993 rief die IG Metall dann eine anfangs belächelte Aktion ins Leben, die aber eine breite Welle der Solidarisierung in der Bevölkerung ausgelöst und vor allem die Politik wachgerüttelt hat: Der Marsch nach Bonn. Am 13. Oktober 1993 nahmen vier Frauen und 35 Männer, der Älteste 56, der jüngste 21 Jahre alt, 320 für viele sehr strapaziöse Kilometer in die damalige Bundeshauptstadt unter die Füße. Unterwegs unterstützte sie ein siebenköpfiges Küchen- und Feldbettenaufstell-Team.
25 Jahre danach brachen nun die „Botschafter der Stadt und der Region“ am 23. Oktober erneut auf nach Bonn, nicht zu Fuß, mit dem Bus: an vier der damaligen Übernachtungsorte wurde Halt gemacht und zum Abschluss der Zweitagestour erlebten die Gewerkschafter ganz in der Nähe zum damaligen Bundeskanzleramt, wo sie damals eine Resolution mit Forderungen zur Rettung von Schweinfurt und Main-Rhön übergaben, eine Veranstaltung, die haften bleiben dürfte. Auch wegen des würdevollen Gedenkens an die mittlerweile zehn verstorbenen Marschierer.
80 Kilometer hatten die Marschierer im zweiten Etappenort in Burgjoß bei Bad Orb in den Knochen. Im kleinen Gemeinschaftshaus begrüßte wie damals Gewerkschaftssekretär Klaus Pfaff, er sprach seinen Respekt aus für die bis heute in Gewerkschaftskreisen hoch anerkannte Aktion und für die „Weitergabe von Kampferfahrung“. Eine Anspielung auf die aktuell fünf jungen Mitfahrer, allesamt Jugendarbeitnehmervertreter der IG Metall von ZF, FAG und Bosch Rexroth – wie etwa Manuela Hebert von ZF: „Es ist unglaublich, was man alles in der Gemeinschaft schaffen kann“, sagte sie nach den zwei Tagen mit den alten Gewerkschafts-Haudegen.
Tatsächlich wuchsen vor 25 Jahren einander vielfach unbekannte Menschen mit den unterschiedlichsten Charakteren trotz oder vielleicht wegen der widrigen Umstände – schlechtes Wetter, Strapazen, Schlafmangel – zu einer festgefügten Gruppe zusammen. „Wir gingen durch dick und dünn“, wie es der mit heute fast 80 Jahren Älteste, Wolfgang Spiegel von SKF formulierte.
„Wenn Du für eine gerechte Sache eintrittst, dann setzt das eine unheimliche Energie frei“, erinnerte Wolfgang Gutgesell (ZF) in Burgjoß. Er sei nicht unbedingt der Sportlichste, habe aber mitgehen müssen, weil Familienangehörige vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht waren. Winfried Eschenbacher (Kufi) machten weniger die täglich 30 bis 40 Kilometer, aber ein unterwegs von einem Baum gepflückter Apfel zu schaffen. Nur eine vom mitlaufenden Doc Armin Schweitzer verabreichte Spritze linderte seine Atemnot, er kam in Bonn an.
Friedrich Wenzel war beim KKG Grafenrheinfeld beschäftigt. Mitgelaufen ist er dennoch: „Aus Solidarität“, wie er schilderte. Ein Zeichen setzen wollte auch Marianne Firsching, damals SPD-Stadträtin und SKF-Angestellte. „Ich musste mitgehen, das war mir ein Bedürfnis“. Walter Hußmann sagt das so ähnlich. Der bei Fichtel & Sachs Beschäftigte lief immer vorneweg und trug neben seinem Gepäck jeden Tag die IGM-Fahne, „das war mir eine große Ehre“.
155 Kilometer lagen hinter den Botschaftern aus Schweinfurt am Ende der vierten Etappe in Nieder-Mörlen bei Bad Nauheim. In der Turnhalle der Frauenwaldschule erinnert sich Egon Friedel (Preh Bad Neustadt). Weil Marathon-Läufer, habe er sich den Marsch „leichter vorgestellt, es war aber eine wahnsinnige Herausforderung“. Günther Stark vom Küchenteam berichtet von den logistischen Problemen unterwegs, als es an den nicht wenigen Regentagen schon mal Bratwürste mit Wasser als Wegzehrung gab. „Aber wir haben alles dafür getan, dass die Marschierer nicht hungrig und fit wieder im Wald verschwinden konnten“.
Asbach war die letzte Station vor Bonn. Der Hausmeister hat die Turnhalle der Konrad-Adenauer-Schule geöffnet. Die Etappe von Langenhan nach Asbach war anstrengende 45 Kilometer lang. Selbst Rico, der von Sieglinde Gagel (FAG) mitgenommene Vierbeiner, war im wahrsten Wortsinn hundemüde. Reiner Niklaus (Fichtel & Sachs), Frank Bauer (FAG), Wolfgang Brischwein und Dieter Schwab (beide SKF) nennen den Marsch aber dennoch ein für sie im Rückblick „einschneidendes Erlebnis“.
Bonn wird am 21. Oktober um 14 Uhr erreicht. Die Anstrengung dieser letzten 40 Kilometer sind wie weggeflogen, als die Marschierer von den mit Bussen gekommenen 250 Gewerkschaftern, Freunden und Angehörigen umjubelt empfangen werden. Im Kanzleramt übergibt eine zehnköpfige Delegation die vorher erarbeitete Resolution an Kanzleramtsminister Friedrich Bohl, MdB Michael Glos hatte den Termin ermöglicht. Dann geht es auf die Heimreise. Um 21.49 Uhr kommt der Bus am Marktplatz in Schweinfurt an, wo rund 500 Menschen ihre Helden enthusiastisch feiern. „Theo rück die Kohle raus, Schweinfurt wird zum Armenhaus“, hallt es noch einmal aus vielen Kehlen.
Bei der aktuellen und von der IGM-Beschäftigten Juliane Daek bestens organisierten Abschlussveranstaltung in Bonn erinnerte der damalige Orga-Leiter und heutige Erste Bevollmächtigte Peter Kippes an seinen Vorvorgänger Gerhard Tollkühn, dem „Erfinder“ des Bonnmarsches. Geld kosten dürfe die Aktion nicht, habe der ihm damals aufgetragen. Kippes freut sich im Rückblick, dass auch dank der Medien das erhoffte bundesweite Echo nicht ausblieb, dass Schweinfurt letztlich Hilfe erfuhr, aber vor allem, dass eine überbetriebliche Solidarität entstanden sei, „die die Arbeitgeber am meisten fürchten“. Der als Ehrengast eingeladene frühere SPD/MdB Frank Hofmann stellte fest, dass es der Bonnmarsch war, der mit großer Unterstützung der Kirchen die Wende und Hilfen für Schweinfurt brachte. Jens Öser, damals Sprecher der bedrohten FAG-Azubis und heute IGM-Mitarbeiter wird die weiteren Treffen der Bonnmarschierer organisieren. Die damals entstandene Gemeinschaft und gelebte Solidarität „hat mich geprägt“.