„Bertuchs Bilderbuch für Kinder” im Museum Otto Schäfer

1661
Die Indischen Pagoden von Mavalipuram. Bilderbuch für Kinder, Band VII, Tafel 96 bzw. Vermischte Gegenstände Tafel 171
Eröffnung am Sonntag, 13. Oktober 2019, 11 Uhr. Dauer: 13. Oktober 2019 bis 1. März 2020. Geöffnet: Samstag: 14-17 Uhr, Sonntag / Feiertag: 10-17 Uhr (An folgenden Tagen geschlossen: 24., 25., 31. 12. 2019).
Das Exemplar des Verlages
Das „Bilderbuch für Kinder“ wurde 1790 in Weimar von Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) begründet. Der bedeutende Unternehmer und Verleger des klassischen Weimars hielt diese Publikation für die bedeutendste seines Landes-Industrie-Comptoirs: „Du weist daß mein Bilderbuch das erste, wichtigste und einträglichste Werk unserer Handlung ist“, schrieb er 1802 an seinen Sohn und Mitarbeiter Carl (1777-1815). Das berühmteste deutsche Kindersachbuch erschien bis 1843 in 237 Heften à 5 Kupfertafeln, die 12 Bände füllen sollten. Die knapp 1200 Bildtafeln stellten ihren jungen Lesern über 6.000 Tiere, Pflanzen, Bauwerke, Stadtansichten, Altertümer, Trachten oder technische Errungenschaften vor. Kurze Erläuterungen in Deutsch und Französisch, zeitweise auch in Englisch und Italienisch, begleiteten die Abbildungen. Auf Druck von Eltern und Pädagogen erschienen zudem seit 1798 ausführliche Kommentarbände, so dass Bertuchs „Bilderbuch für Kinder“ auch im Schulunterricht – etwa am Schweinfurter Gymnasium – eingesetzt wurde. Das Werk steht damit auf der einen Seite in der Traditionslinie des 1658 erstmals publizierten „Orbis pictus sensualium“ des Johann Amos Comenius (1592-1670), der die sichtbare Welt in Bildern darstellte, begleitet von einem deutschen und lateinischen Glossar. Das Buch sollte Schülern zur leichteren Erlernung beider Sprachen dienen, seine Holzschnitte konnten aber bereits Vorschulkindern helfen, die Welt zu begreifen. Andererseits lehnte Bertuch die systematische, theologisch begründete Ordnung des Comenius ab. Zudem galt ihm das ‚Buch der Natur’ – wie der Pädagogik der Aufklärung – mehr als das ‚Buch der Bücher’. Sein Bilderbuch griff ständig wechselnde und neuartige Themen auf, um das Interesse und die Neugier der Kinder nicht durch Gleichförmigkeit und Alltägliches zu ersticken: „Es muss wo möglich fremde und seltene, jedoch instructive Gegenstände enthalten, die das Kind nicht ohnediess schon täglich sieht. Jene interessiren und unterhalten es nur, weil sie den Reiz des Raren und Wunderbaren haben. Bilder von bekannten und alltäglichen Dingen reizen und amüsiren hingegen das Kind nicht“. Diese Abkehr von einer Systematik verbindet ihn mit dem gleichaltrigen Schweinfurter Theologen und Pädagogen Johann Peter Voit (1747-1811). Dieser war u.a. Mitarbeiter an dem viersprachigen Werk „Schauplatz der Natur und Künste“, das seinen jungen Lesern ebenso wahllos unterschiedlichste Tiere, Gegenstände oder Berufe in Bild und Text vorstellte.
Bertuch bestand allerdings darauf, dass die auf einem Blatt abgebildeten Realien einem Oberbegriff zuzuordnen und in ihrem Größenverhältnis zueinander stimmig sein sollten, auch wenn die meisten Gegenstände natürlich nicht in originaler Größe abgebildet werden konnten. Die durchgehende Zählung der Tafeln nach „Suiten“ – etwa Pflanzen, Vierfüßige Tiere, Vögel, Fische, Amphibien oder Gewürme – ermöglichte alternativ eine systematische Ordnung durch Eltern und Erzieher. Mit Abteilung wie Altertümer und Trachten konnten antike und ethnologische Themen aufgegriffen werden. In der Anfangszeit fast ausschließlich der Naturgeschichte gewidmet,  sollten sich zunehmend die Vermischten Gegenstände im Bilderbuch durchsetzen, die insgesamt fast ein Drittel der Tafeln stellten. Mit dieser Suite kamen vor allem Geographie, Topographie, Technologie und Anthropologie in ihrer gesamten Breite zum Zuge: Sei es Eisenbahn, Dampfschifffahrt oder die Untertunnelung der Themse, bzw. der Vesuv und seine Ausbrüche oder der Mont Blanc und seine Besteigungen, sowie Stadtansichten und bedeutende Bauwerke,  oder gar menschliche Sinneswahrnehmungen.
Bei den Bemühungen, die Neugier der Kinder durch seltene, fremd- und neuartige Gegenstände zu wecken, konnten Bertuch, sein Sohn Carl und sein Schwiegersohn Ludwig Friedrich von Froriep (1779-1847), der letzte Herausgeber des Bilderbuches, auch auf das breitgefächerte Zeitschriftenspektrum des Landes-Industrie-Comptoirs zurückgreifen. Die dort rezensierten Schriften, deren Erkenntnisse später häufig in Zusammenfassungen mitgeteilt und mit Nachstichen ihrer Illustrationen versehen wurden, eigneten sich auch als Quelle für das Bilderbuch. So etwa der 1808 erschienene zweite Teil von Jacob Haafners „Reise in einem Palankin“ entlang der indischen Koromandelküste, der seit April 1809 in den „Allgemeinen Geographischen Ephemeriden“ vorgestellt wurde: Die Tafel mit den „Pagoden von Mavalipuram“ (Tempelbezirk von Mahabalipuram) fand genauso Eingang in das Bilderbuch wie mehrere Kupfer zur Kunst des Tätowierens auf der Insel Nuku Hiva (Marquesas-Inseln, Französisch Polynesien). Sie wurden den zeitgenössischen Berichten zur ersten russische Weltumseglung 1803-1806 unter Adam Johann von Krusenstern (1770-1846) entnommen. Aber auch „Das Journal des Luxus und der Moden“, „Das Allgemeine Teutsche Garten-Magazin“ und „Der Teutsche Obstgärtner“ wurden für das Bilderbuch ausgeschlachtet.
Die Ausstellung zeigt das Exemplar des Bilderbuches, das im Besitz des Bertuch’schen Verlages war. Es weist einige Besonderheiten auf: Den Bänden fehlen Titelblatt und Register. Dafür enthält das Konvolut zum Bilderbuch aber über 200 zusätzliche Tafeln: Probe- und Zustandsdrucke, Separatabzüge und ausgeschnittene Abbildungen. Die naturgeschichtlichen Tafeln des ersten Bandes sind mit wenigen Ausnahmen nochmals vorhanden, zusammen mit dem Neudruck der Texte für die zweite Ausgabe. Ludwig Friedrich von Froriepr Tochter Emma (1805- 1872) vermachte ihre Ansprüche am Bertuch-Froriep-Nachlass ihrer Nichte Alma (1832-1910), die 1856 August Rückert (1826-1880) heiratete. Ihr Sohn Hugo und ihr Enkel Rüdiger Rückert konnten die Publikationen des Landes-Industrie-Comptoirs mit zugehörigen Zeichnungen und Probedrucken weitgehend zusammenhalten und für sich sichern. Als Teil der Sammlung Dr. Rüdiger Rückert wurden sie 1957 von der Stadt Schweinfurt erworben.