Die Menschen lesen in Corona-Zeiten.
Die Schweinfurter Autorengruppe SAG schreibt.
Wenn die Bühnen und Museen geschlossen sind, dann besteht die Gefahr, dass sich unsere Herzen verschließen und unsere Sinne verkümmern. Backstage tut sich viel, aber wir sind ausgeschlossen, ausgeschlossen vom direkten Erleben der Kultur, zurückgeworfen auf Online-Streamings vor dem Bildschirm. Die Rettung: Das Lesen, das Buch! Beim Lesen kann man entspannen vom Homeschooling, vom Homeoffice und die Tür aufmachen in die Welt, die zurzeit so weggerückt ist. Und das alles ohne Maske!
Aber man braucht auch die Menschen, die für uns schreiben. Autorinnen und Autoren findet man nicht nur in Berlin, Hamburg oder Frankfurt. Nein, auch Schweinfurt hat eine reiche Literaturszene. Schon lange erfreut die Schweinfurter Autorengruppe SAG die Literaturbegeisterten mit ihren Texten. Seit 1995 beweist die Gruppe, dass sie etwas zu SAGen hat. Jede Autorin, jeder Autor hat eine eigene Note, ein eigenes Genre, eigene Schwerpunkte, eine eigene Sprache, natürlich auch unterschiedliche Verlage. Lyrik, Prosa, Drama, Textperformance. Ein weites Feld! In der Gruppe sind zurzeit aktiv: Renate Eckert, Joachim Engel, Günter Hein, Peter Hub, Manfred Manger, Anika Peter, Anita Tschirwitz, Linde Unrein und Hanns Peter Zwißler samt organisatorischer Begleiterin Johanna Bonengel.
Gemeinsam gehen sie auf Lesereise, nehmen sich Themenprojekte vor, stellen eine Anthologie zusammen, oder sie organisieren die offene Lesebühne „Wortrösterei“ in der „Kleinen Kaffeerösterei“ in der Rückerstraße, und das an jedem dritten Dienstag im Monat.
Wegen der Corona-Pandemie ist das öffentliche Auftreten seit über einem Jahr wie vieles andere nicht möglich. Aber das Schreiben ist geblieben.
Die Autorengruppe freut sich, dass ihre Texte im Groschenheft einem großen Lesepublikum präsentiert werden können, und das in lockerer Reihenfolge. So bleiben die Autorinnen und Autoren mit ihrem Schreiben nicht allein. Und die Leserinnen und Leser werden sich sicher amüsieren, wenn sie dem satirischen Blick von Hanns Peter Zwißler auf das Corona-Geschehen folgen.
Meine befristete Isolation, von Hanns Peter Zwißler
Montag, 2. November, bis Sonntag, 9. November
Gelegentlich trete ich auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen, unter mir die Corona-Welt, ich über ihr in Quarantäne.
Am Anfang fand ich’s gut. Es sind Tage voller Konzentration. Ich habe zwei kurze Erzählungen geschrieben, ich werde sie in einer Literaturzeitschrift unterbringen. Mein Essen, abwechslungsreich und schmackhaft, wird mir pünktlich von anonymer Hand vor die Wohnungstüre geschoben. Das fehlende Salz ist aus eigenen Mitteln leicht nachzuwürzen.
Dann diese anonyme Anzeige! Man habe mich im Freien, sprich auf meinem Balkon, beobachtet, von wo aus ich einer weiblichen Person auf einem Nachbarbalkon eindeutige Zeichen zugesandt habe. Da bahne sich, kontaktverbotswidrig, etwas an.
Die beiden Polizisten, die an meiner Tür erscheinen, sind abgebrühte Burschen. Sie entschuldigen sich, sie müssten der Sache eben nachgehen. Das Denunziantentum, sagen sie, feiere derzeit fröhliche Urstände. So sei es eben in Krisenzeiten.
Klar, sage ich zu ihrer Entlastung, Corona bekomme eben keiner gern. Die chinesische Staatsführung zum Beispiel, sage ich, stelle ihr gesamtes Volk einschließlich der Uiguren unter Quarantäne, um ja von niemandem angesteckt zu werden. Im Übrigen, sage ich, kann keiner was dafür. Das menschliche Denunziantentum sei höchstwahrscheinlich genetisch bedingt, so dass auch kein Impfstoff dagegen gefunden werden könne.
Die beiden ziehen erleichtert ab. Und ich ziehe mich für Tage von meinem Balkon zurück und rauche in der Küche.
Dienstag, 10. November
Ich erhalte mehrere Anrufe, bei denen sich allerdings niemand meldet, als ginge es lediglich darum, meine Stimme am Telefon abzuhören.
Mittwoch, 11. November
Ein erneuter Anruf! Eine frische jugendliche Stimme: Hi, Opa, bist du’s? Der Anrufer nennt sich Kevin und behauptet, mein Enkel zu sein. Ich indessen bin mir sicher, keinerlei Enkelinnen und Enkel zu haben. Es reizt mich dennoch, auf sein Spiel einzugehen. Dieser Kevin redet viel und schnell. Er sei in einer schrecklichen Klemme, habe selbst Corona und habe fahrlässig andere angesteckt. Deren Rache müsse er nun fürchten, wenn er nicht bis übermorgen ein erkleckliches Schmerzensgeld zusammenbrächte. Ob nicht ich, sein Opa, ihm helfe könne? Er rufe mich sofort wieder an.
Wie …?, kann ich gerade noch fragen, da ist die Verbindung unterbrochen.
Ich überlege, die Polizei einzuschalten, sehe aber davon ab. Ich weiß, sie ist jetzt schon durch das grassierende Denunziantentum völlig überlastet. Ich werde den Fall selbst in die Hand nehmen.
Donnerstag, 12. November
Laufend neue Anrufe! Es ist immer dieser Kevin. Sein Ton verschärft sich. Seine Sprechgeschwindigkeit nimmt zu. Er selbst stehe ebenso unter Quarantäne wie ich und dürfe und könne sich bei mir nicht zeigen. Ich solle das Geld und die Wertsachen in eine Plastiktüte verpacken und über das Balkongeländer in den Vorgarten hinunterwerfen. Wann genau, werde er mir mitteilen. Eine gute Bekannte werde anwesend sein und die Tüte in Empfang nehmen.
Freitag, 13. November
Ich nehme eine stattliche Plastiktüte mit auf die Toilette, kleide die Kloschüssel damit aus, tätige meinen Morgenschiss und füge reichlich gebrauchtes Toilettenpapier hinzu. Mit einem Kabelbinder schnüre ich das Packet zu.
9 Uhr, der erste Anruf! Ich soll mich ab jetzt viertelstündlich auf dem Balkon zeigen zum Zeichen, dass die Aktion wie geplant durchgeführt werden könne. Der Count-Down werde mir telefonisch mitgeteilt.
Der zweite, der dritte Anruf! Punkt zehn Uhr dann der Befehl: Du musst jetzt werfen, Opa!
Ich trete auf den Balkon, schwinge die Tüte und entlasse sie aus meinem Griff. Ich höre sie auf dem Rasenstück aufschlagen. Unten sehe ich eine Gestalt, ein Mädchen, aus der Hecke springen und die Tüte an sich reißen. Identifizieren könnte ich sie wegen ihres vorbildlich angelegten Mund- und Nasenschutzes nicht.
Ich erinnere mich zurück an meine Studentenzeit. Damals gab es bei öffentlichen Auftritten ein absolutes Vermummungsverbot. Wer sich nicht daran hielt, dem wurde ein Schlagstock übergezogen. Sic transit gloria mundi.
Ich bleibe auf meinem Balkon und rauche, um den letzten Tag meiner Quarantäne um einige Zigarettenlängen zu verkürzen. Auf den Balkon daneben ist eine Frau getreten und bürstet ihre Haare. Ich schicke ihr ein eindeutiges Zeichen zu, das sie lachend erwidert.
Hanns Peter Zwißler, Jahrgang 1946, ist im Allgäu aufgewachsen und studierte in Würzburg Geschichte, Germanistik und Politik. Von 1975 bis 2008 war er Lehrer am Celtis-Gymnasium Schweinfurt, zuletzt als stellvertretender Schulleiter. 1998 erschien sein erster Roman „Der Bröll“. Bei Königshausen & Neumann sind fünf weitere Romane und der Erzählband „Blitzeis“ erschienen, zuletzt 2020 der Roman „Österle und Escher“. Immer beweist Zwißler einen gewitzten, präzisen und kritischen Blick auf Menschen und nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf spannende Zeitreisen. In dem, was er schreibt, klingt das Leben, die Emotion. Wichtig sind ihm Rhythmus und Sound. Zwißler ist Mitbegründer und Sprecher der Schweinfurter Autorengruppe SAG und Mitglied im Literarischen Forum Oberschwaben, das von Martin Walser mitbegründet wurde. Er gehört der Gruppe liTrio und dem Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) an.
Mehr zum Autor: www.hannspeterzwissler.de