Johanna Bonengels Buchtipp: „Die Erweiterung“ von Robert Menasse

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Robert Menasse. Foto: suhrkamp

Die krasse Absurdität der Wirklichkeit

Robert Menasses Roman „Die Erweiterung“ knüpft an sein grandioses, preisgekröntes Buch „Hauptstadt“ an, erschienen 2017, das die Situation Europas in den Fokus nahm. In seinem neuen Buch steht wieder Europa im Mittelpunkt. Dieses Mal geht es nicht um die Brüsseler Bürokratie, sondern um den wiedererstarkenden Nationalismus in den Mitgliedsländern, die einem verblendeten Nationalismus frönen. Menasse hat sich jetzt insbesondere auf Albanien konzentriert, auf das Land, das Mitglied in der Europäischen Union werden will und das höchst verschwurbelte Wege zu diesem Ziel geht.

Was den Bau des europäischen Hauses angeht, hat sich – so Menasse in seinem Roman – nicht viel zum Besseren verändert, vielleicht nur, dass seit 2017 eine Kommissionspräsidentin im Gebäude der Europäischen Kommission sitzt „und sprüht Drei Wetter Taft auf ihren goldenen Helm“ (S. 623).

Der großartige Erzähler Menasse nimmt uns mit in das Land Albanien und seine Regierungsspitze. Hier zeigt sich die Fabulierlust Menasses und die Liebe zu seinen Protagonisten. Da sind real existierende Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, wie der albanische Präsident oder der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, aber auch „Menschen, die meinen Roman bevölkern, die durch meinen Roman wimmeln, die ihr Leben zu machen versuchen, das sind literarische Figuren.“ (S. 23) Die Leserinnen und Leser wandern durch das Wimmelbild der Szenen, von denen ich hier nur einen Bruchteil erwähnen kann; sie treffen zum Beispiel auf knöcherne Brüsseler Bürokraten, die auf Liebestouren sind, oder sie begegnen der irrwitzigen albanischen Politik mit einem Regierungschef, der mit Hilfe des albanischen Volkshelden Skanderbeg aus dem 15. Jahrhundert einen Weg in die EU erkämpfen will.

Im Mittelpunkt des Romans steht der glänzende Helm Skanderbegs mit Ziegenkopf aus vergoldeter Bronze, sozusagen als Dingsymbol. Dieser Helm soll alle albanischen Volksgruppen des Balkans versammeln, auch die albanischen Gemeinden in Süditalien, in der Türkei und in Deutschland. Dieses Albanien soll als visionäres Modell eines Europas der Regionen den Weg in die EU öffnen. Aber der Helm wird unter dubiosen Umständen gestohlen; es beginnt eine kuriose Jagd nach dem Helm; alles wird zu einer bitterkomischen, krass-absurden, aber auch treffenden Allegorie auf den kursierenden Nationalismus in Europa.

Besonders erhellend im Reigen der vielfältigen Szenerie ist die Geschichte von den einstigen Jugendfreunden Adam, der bei der Europäischen Kommission arbeitet, und dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz, der in Polen die Freiheitsrechte einschränkt und ein Gegner der EU-Erweiterung durch Albanien ist. Nach dem Ende des Warschauer Paktes wurden sie erbitterte Feinde.

Jenseits der politischen Erzählebene überzeugt Menasse mit einer Vielzahl von transnationalen Liebesgeschichten. Nicht alle Sehnsüchte erfüllen sich; einige der Liebenden stürzen auf schlimmste Weise ab. „Die Liebe kann manchmal wie eine wohlige Heizdecke sein, die zu klein ist. Sie wärmt, aber man friert doch, weil sie nicht alles abdeckt. […] In der Früh küsst man sich verschlafen, aber springt dann schnell auf und in die Dusche, wäscht alles weg, die Kälte und den Schweiß des anderen.“ (S. 305)

Der gesamte Roman mit seinen vielen faktischen Facetten und fiktiven Anekdoten ist für die Leserin, den Leser ein äußerst kurzweiliges, spannendes und sehr erhellendes Lesevergnügen – trotz seiner 654 Seiten. Das gesamte Buch ist wie ein Sog. Das letzte Kapitel entfaltet ein erzählerisches Meisterwerk: Eine Schiffsreise auf der SS Skanderbeg zur Vorbereitung auf die EU-Erweiterung wird zu einem Todestanz auf hoher See. Ein düsteres Ende für ein absurd-amüsantes Buch. Beste Literatur!

Zum Autor: Robert Menasse (geboren 1954 in Wien, wo er heute wieder lebt) hat sich als fabelhafter Erzähler, als fleißiger politischer Essayist und klugen Kulturkritiker einen großen Namen gemacht. Viele Preise begleiten seinen literarischen Weg. Er studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft, arbeitete als Lektor, Dozent und jetzt als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem brasilianischen Portugiesisch.

Robert Menasse: Die Erweiterung. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022, 654 Seiten. 28 €, 15 € als Taschenbuch.