Johanna Bonengels Buchtipp: „Die Wetterseite der Bäume”

1049
Peter Arndt. Foto: Ulrike Arndt

Umsiedlung und Krieg.
Kolja – ein Junge aus Wolhynien auf der Suche nach Heimat –

Von Wolhynien nach Wiesentheid. Geschichten beleuchten Geschichte.

Peter Arndts „Die Wetterseite der Bäume“ ist ein erhellendes und überaus spannendes Buch, das voller Geschichten steckt aus einer Zeit, die uns fern und aufgrund der aktuellen Ereignisse in der Ukraine doch so nah ist. Die erzählten Geschichten, die die Zeit zwischen 1939 und 1945 umspannen, beleuchten am Beispiel einer Familie ein Kapitel deutscher und osteuropäischer Geschichte, das den brutalen Irrwitz von Machtpolitik und das Leid von vielen, vielen Menschen spiegelt.

Der Autor Peter Arndt, im fränkischen Wiesentheid geboren, hat eine „Romanbiografie“ – so nennt er sein Werk – geschrieben, in der er den Spuren der Lebensgeschichte seines Vaters Nikolaus Arndt und seiner Familie folgt. Peter Arndt baute einen umfassenden Materialfundus ein: Forschungsergebnisse seines Vaters, authentische Dokumente, Erinnerungen an Gespräche und Geschichten seines Großvaters und an Erkundungen vor Ort in Osteuropa. Hinter den fiktiven Romanfiguren – Kolja, Sascha, Martha und vielen anderen – stehen die realen Menschen der großen Familie Arndt mit ihrem Alltag und ihren ganz besonderen Lebensverhältnissen ab dem Jahr 1939. Das gewählte Format eines Romans macht es uns möglich, in das Leben der Menschen einzutauchen, sie zu verstehen und mitzufühlen. Fiktionalität und dokumentarische Genauigkeit sind geschickt miteinander verknüpft. Glücklicherweise gelingt es dem Autor, Pathos und tränenreiches Zurückblicken zu vermeiden.

Die Romanbiografie umkreist verschiedene Themenkreise: Der Ausgangspunkt ist das Leben in Wolhynien, einer Region, die heute zur westlichen Ukraine gehört. Seit dem 24. Februar 2022, seit dem brutalen Überfall Putins auf die Ukraine, tobt hier ein unmenschlicher Krieg. Betroffen ist davon auch die Stadt Luzk, ehemals Hauptstadt der historischen Region Wolhynien, mit der Schweinfurt seit 2023 eine Städtepartnerschaft besiegelt hat, um Hilfe zu leisten in einer Zeit der humanitären Katastrophe und Zeichen zu setzen für eine Wertegemeinschaft.

Die Romanhandlung lässt das Miteinander oder eher das Nicht-Miteinander in der Region Wolhynien lebendig werden. In ihr lebten Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache in einem jahrhundertealten, krisenbehafteten, multiethnischen Spannungsfeld: Deutsche, Russen, Polen, Juden, Ukrainer, Tschechen. Gegenseitiger Hass gehörte zum Alltag, insbesondere auf die Sowjetunion: „Hauptsache kein Bolschewik.“ (S. 144) Die Region Wolhynien gehörte einmal zu Polen, zu Russland, zur Sowjetunion, dann zum von Nazi-Deutschland besetzten Warthegau. Westukraine und Wolhynien waren Schauplatz von Völkermord und Holocaust. Die jüdische Bevölkerung wurde systematisch verfolgt und ermordet durch NS-Organisationen und Wehrmacht. Die „Romanbiografie“ erzählt eindringlich und lebensecht davon, was Enteignungen, Umsiedlungstransporte, Vertreibungen, Deportationen, „Germanisierung“, Flucht und Krieg mit den Menschen machte. Die Geschichten berühren die Leserin, den Leser, weil erlebende Menschen im Zentrum stehen, nicht Zahlen, Statistiken und Herrschaftsstrukturen.

Die Mittelpunktfigur im Roman ist das Kind Kolja, das in der ehemaligen deutschen Siedlung Korist in Wolhynien aufwächst. Kolja (entspricht Nikolaus Arndt, Vater des Autors) erzählt in der Ich-Perspektive, also aus der Sicht eines Kindes, von Abenteuerleben, Spielen, „Erholungslager“, „Sommerfrische“. Die allwissende Erzählperspektive mit vielen Dialogen wählt der Autor Peter Arndt, um den zweiten Protagonisten erlebbar zu machen: Sascha, der Vater von Kolja, ein tüchtiger Mann, der für seine Familie und die Mühle lebt, die er betreibt. Sascha hat eine sorgenvolle Sicht auf das, was die hasserfüllte, menschenverachtende Politik – insbesondere die „Bestien“ Hitler und Stalin – mit den Menschen macht. Sascha findet in diesem „Tollhaus“ kaum Orientierung, nur seine Familie gibt ihm Halt. Sein Lebenscredo lautet: „Das Menschliche zählte. Und das Persönliche. Egal, ob Deutscher, Ukrainer, Russe, Jude, Tscheche oder Pole“ (S. 51). Er erkennt die Nazi-Lügen. So erträgt er die vielen Fluchtstationen und „Durchschleusungen“, die Arndt detailliert und nachvollziehbar erzählt.

Ein weiterer Schwerpunkt der „Romanbiografie“ liegt in der überzeugenden Darstellung der Haltung und Entwicklung des 15-jährigen Flakhelfers und Panzerjägers Kolja. Er unterwirft sich vollkommen der NS-Propaganda. Kolja glaubt lange an den erfolgreichen „heroischen Kampf“ und will sein Leben „für das Vaterland einsetzen“. Die „Gräueltaten“ dringen kaum in den Jungen hinein; deshalb spielen in der Romanhandlung Stalingrad, Völkermord, Holocaust nur ein Schattendasein. Auch die Wortwahl spiegelt dies wider. Arndt umkreist gelegentlich mit Watteworten das menschliche Elend. Man liest, dass das „Wettrennen mit dem Sensenmann verloren“ geht (S. 330) oder dass der Soldat „Gevatter Hein von der Schippe gesprungen“ (S. 333) ist.

Kolja erkennt erst im zerstörten Berlin und in der Kriegsgefangenschaft, dass Hitler ein „Verbrecher“ ist und dass er betrogen wurde. Es wäre wichtig, wenn heutige Zeitgenossen das lesen, was der Autor Peter Arndt seinem Protagonisten Kolja in den Mund legt: „Nur hohles Pathos. Lügen über Größe, Ehre, Ruhm und Manneskraft. Und das, was wir erlebt hatten, war Kleinmut, Niedertracht, Schande und Verderben.“ (S. 342)

Wiesentheid bedeutet das Ende der „rastlosen Reise“ der Familie Arndt. Es ist ein Ankommen.

Ein gutes Buch, ein eindringliches, ein ehrliches Buch! Aus Einzelheiten können wir das Wesentliche begreifen, das uns erschüttert zurücklässt. Nur schade, dass die beigefügte, mit der Hand gefertigte Landkarte kaum Aufschluss geben kann über die verwirrende geopolitische Lage der Region Wolhynien.

Peter Arndt wohnt heute in Bamberg. Er ist diplomierter Soziologe und Organisationsprogrammierer und arbeitete in der IT-Branche in leitenden Positionen. Das Schicksal seiner Familie beschäftigt ihn sehr. Deshalb setzt er mit seiner „Romanbiografie“ die Arbeit seines Vaters Nikolaus Arndt fort, der sich um die Aufarbeitung der Geschichte Wolhyniens verdient gemacht hat.

Am 7. Juni, 19 Uhr, stellt Peter Arndt seine „Romanbiografie“ im Historischen Pfarrhaus am Schlossplatz in Wiesentheid vor.

Peter Arndt, Die Wetterseite der Bäume, Romanbiografie, Rellin-Verlag, Hohen Neuendorff 2024, 17,50 €.