Johanna Bonengels Buchtipp: Joachim Meyerhoff

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Literatur
„Man kann auch in die Höhe fallen”

Joachim Meyerhoff ist ein Lieblingsautor vieler Menschen, die sich für Literatur begeistern. Er ist auch einer meiner Lieblingsautoren. Warum? Er ist ein wahrer Kontrapunkt zu aller Düsternis, die uns umgibt, und er ist ein genialer Erzähler. Ein Glücksfall! Immer anrührend, sprachlich herzerfrischend, leichtfüßig, mit einem Quäntchen gewitzter Melancholie. Meyerhoffs Romane geben der zurzeit modischen Ich-zentrierten Prosa einen ganz unverwechselbaren Akzent.

Seit der Schauspieler Meyerhoff sein Schreibprojekt „Alle Toten fliegen hoch“ startete, freut man sich auf jede seiner Zeilen. Er machte aus seinen Lebenserinnerungen einen autofiktionalen Romanzyklus. Er erzählt zum Beispiel vom Aufwachsen auf dem Gelände der Jugendpsychiatrie in Schleswig oder von seiner Schauspielausbildung in München, während er bei seinen exzentrischen Großeltern lebte. 2018 erlitt Meyerhoff einen Schlaganfall; auch diese Erfahrung verarbeitete er in einem Buch.

Im sechsten Teil seines Zyklus – „Man kann auch in die Höhe fallen“ – flieht Meyerhoff aus Berlin und vor den Aggressionen, die die Stadt in ihm auslösen, zu seiner 86-jährigen Mutter auf’s Land nach Schleswig. Er will sich kümmern und will auch seine Schreibblockade überwinden. Doch die Mutter bedarf der Fürsorge des Sohnes weit weniger als dies umgekehrt der Fall ist. Die ersten Kapitel sind überschrieben mit „Mutter isst“, „Mutter taucht“, „Mutter heilt“. „Ich hingegen war derjenige, der nicht mehr klarkam und dem viele Fäden gerissen waren.“ Sie steht mitten im Leben. Sie ist eine unabhängige, unkonventionelle, zupackende Frau mit einem intakten Sozialleben. Das Gegenstück zu ihrem umständlichen, in Peinlichkeitsängsten und lähmender Selbstbeobachtung gefangenen Sohn, dem „Trauerkloß“.

Es gehört zu den großen Vorzügen von Meyerhoffs Blick auf die Welt, dass er einen subtilen Blick für Alltagsabsurditäten hat, jederzeit aber die Balance hält zwischen situativer Komik und grundsätzlichem Lebensernst. Wenn Meyerhoff sich über einen Menschen lustig macht, dann ist er es selbst, er, der Schriftsteller mit Legasthenie.

Kapitelweise wechseln sich die Aufzeichnungen von Meyerhoffs Landaufenthalt in der Gegenwart ab mit grell-komisch und höchst unterhaltsam erzählten Erinnerungen an kuriose oder anrührende Begebenheiten seiner frühen Schauspielerfahrungen. Herrlich, die Blamagen zu lesen! Oder wie der kleine Joachim in der Grundschule mit Bleistift in sein Heft eine Geschichte geschrieben hat – als Faksimile im Buch abgedruckt – und es nicht fertig brachte, ein einziges Wort orthografisch korrekt zu schreiben.

Wir, die Leserinnen und Leser, begleiten auch den Entstehungsprozess des Buches. „Alle meine Erlebnisse und Geschichten liegen vor mir in Form Hunderter Felsen, Brocken und Steine, all das zu Erzählende und Unerlöste als Landschaft unter meinen tippenden Fingern, und ich springe und schreibe darüber hinweg und vertraue darauf, nicht zu stürzen.“

Doch in erster Linie ist der Roman eine Liebeserklärung an die Mutter. Wie gerne möchte man diese Frau kennenlernen. Der Roman ist auch eine Hommage an die Menschen und die Landschaft, in der Meyerhoff groß geworden ist. Wunderbar die Beobachtungen zu den singenden Chorfrauen, sehr liebevoll und zugespitzt!

Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen”. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 368 Seiten, 26 €.

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